Tokio 2021: Erste Bilanz
Tokio/JPN (fn-press). Die deutschen Reiter*innen kehren mit drei Gold- und einer Silbermedaille im Gepäck zurück von den Olympischen Spielen in Tokio, die aufgrund der Corona-Pandemie, aber auch Änderungen im Reglement in vieler Hinsicht anders verliefen als zuvor. Kurz vor dem Rückflug zieht Dr. Dennis Peiler, Sportchef der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) und Geschäftsführer des Deutschen Olympiade Komitees für Reiterei (DOKR), im Interview ein erstes Fazit zu Tokio 2021.
Dr. Peiler, rein sportlich gesehen, welche Bilanz ziehen Sie nach diesen Olympischen Spielen?
Dr. Dennis Peiler: „Insgesamt kehren wir sehr zufrieden nach Hause zurück, was den sportlichen Erfolg betrifft. Mit drei Gold- und einer Silbermedaille war das sicherlich ein sehr erfreuliches Ergebnis.
Natürlich muss man das disziplinspezifisch etwas differenziert bewerten. Wir haben eine überragende Dressur gesehen, sowohl in der Mannschafts- als auch der Einzelwertung. Wir wussten im Vorfeld, dass wir eine ganz starke Mannschaft dabei haben, aber nichtsdestotrotz muss man dann auch zum richtigen Zeitpunkt alles abrufen. Und natürlich hat uns auch hier die Sorge begleitet, dass es dieses Mal kein Streichergebnis gibt, und sind sehr glücklich, wie das Ganze ausgegangen ist.
Auch in der Vielseitigkeit sind wir mit der klaren Zielsetzung hingefahren, sowohl in der Mannschaft als auch im Einzel um die Medaillen mitzureiten. Ich glaube, wir können auch nach diesen Spielen sagen, dass wir nach wie vor zur Weltspitze gehören, auch wenn es mit dem Team nicht zu einer Medaille gereicht hat. Der erste Dämpfer war sicherlich die Dressur von Sandra Auffarth, von der wir uns – und sie sich sicher auch – mehr erhofft hatten. Nach den tollen Resultaten von Michael Jung und Julia Krajewski sind wir dann aber ganz positiv ins Gelände reingegangen. Nach einem Vorbeiläufer und einem Hindernisfehler mussten wir jedoch feststellen, wie schnell Träume einer Ernüchterung weichen können. Wie gut wir aufgestellt sind, konnte man dann wieder im Teamspringen sehen. Mit ihren tollen Nullrunden haben alle nochmal unterstrichen, wozu sie imstande sind. Es war eine fulminante Aufholjagd und es ist schade, dass es nicht zur Teammedaille gereicht hat. Die hätte man gerade Hans Melzer zum Abschied nochmal gewünscht.
Und dann haben wir uns alle so sehr über die Goldmedaille von Julia Krajewski gefreut. Sie hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass sie Pferde an die Weltspitze heranführen kann. Sie ist eine tolle Ausbilderin, wir erleben sie als herausragende Trainerin im Jugendbereich und wir wissen, dass sie eine fantastische Reiterin ist, aber beim Championat konnte sie es bis jetzt nicht abrufen. Jetzt ist der „Knoten geplatzt“, sie ist in der Weltspitze angekommen und hat mit ihrem glänzenden Erfolg auch die kleine Enttäuschung über das Abschneiden des Teams wettmachen können. Das freut mich, denn auch das ist ein Ergebnis der Arbeit unserer Bundestrainer. Wir stellen jetzt zum vierten Mal in Folge den Einzel-Olympiasieger in der Vielseitigkeit. Dazu muss ich sagen, dass sich Michael Jung als absolut fairer Sportsmann gezeigt hat, der in seiner Disziplin sicher nach wie vor das Maß der Dinge ist, an dem sich alle ausrichten. Auch wenn es für ihn sicherlich bitter ist, dass es dieses Mal nicht geklappt hat.
Nach den Erfolgen war es natürlich schade, dass das Springen etwas ernüchternd endete. Wir hatten viele Ausfälle im Vorfeld, sind mit drei Olympiadebütanten hingefahren und wussten, es muss an allen Tagen alles passen, um am Ende Aussicht auf eine Medaille zu haben. Man konnte gerade in der Qualifikation für das Mannschaftsfinale sehen, dass das Potenzial vorhanden war, um vorne mitzureiten, aber es fehlte leider an der Konstanz. Daran muss weiter gearbeitet werden, die jüngeren Paare müssen Championatserfahrungen sammeln. Positiv zu erwähnen bleibt der tolle Mannschaftsgeist und das Horsemanship in unserem gesamten Team. Bestes Beispiel ist Daniel Deußer, der im Finalspringen gemerkt hat, es soll in diesem Moment nicht sein und den Parcours beendet hat. Das war in diesem Moment genau die richtige Entscheidung.
Unser sportliches Gesamtfazit ist auf jeden Fall positiv. Wir sind unter den deutschen Sportverbänden der Verband mit den meisten Goldmedaillen. Wir haben wieder einmal zur Bilanz des ‚Team D‘ einen wichtigen Beitrag leisten können. Das waren Olympische Spiele mit ganz besonderen Herausforderungen, Einschränkungen und Belastungen. Mein großes Kompliment gilt allen vor oder hinter den Kulissen, die all das mitgetragen haben.“
Was war die größte Herausforderung?
Dr. Peiler: „Die größte Herausforderung organisatorischer Art war, alle möglichen Störfaktoren für die Aktiven und die Pferde auf ein Minimum zu reduzieren. Mein Dank gilt hierbei insbesondere unserem ‚Reiseleiter‘ André Schoppmann, der alles minutiös geplant und vorbereitet hat, und allen anderen im Unterstützungsteam, von denen jeder seine Rolle perfekt ausgeübt hat. Das hat dafür gesorgt, dass hier insgesamt eine große Zufriedenheit geherrscht hat.
Mit dazu beigetragen haben aber auch die wirklich erstklassigen sportlichen Bedingungen. Wenn die anders gewesen wären, hätten wir ein echtes Problem gehabt. Weil der Sport so gut funktionieren konnte, durch die Rahmenbedingungen, waren alle anderen Dinge nachrangig. Es wurde akzeptiert, dass wir hier gefühlt „Knast mit Hofgang“ hatten. Wir hatten zum Glück einen sehr schönen Hofgang mit unserem „grünen“ Equestrian Park, anders als andere Athleten in ihren Sportstätten. Die größte Herausforderung für die Reiter war die Langeweile. Das muss man erst einmal wuppen ohne einen Lagerkoller zu bekommen. Klar, ist man sich zwischendurch mal aus dem Weg gegangen, aber einen echten Lagerkoller hatten wir nicht. Es wurde miteinander gespielt, gelacht, wir haben alle gemeinsam das Beste aus den Bedingungen gemacht. Aber es waren eben keine Olympischen Spiele mit dem typischen Flair, kein Fest der Kulturen, kein Besuch anderer Sportarten und kein Erkunden der Stadt.
Rückblickend war es gut, nicht im Olympischen Dorf untergebracht gewesen zu sein, denn wir waren näher dran am Equestrian Park und alle zusammen. Schade war nur, dass wegen Corona die Möglichkeiten in unserem Hotel sehr eingeschränkt waren – kein Fitness, kein Schwimmbad. Selbst das Treppenhaus durften wir nicht nutzen und von den 15 Restaurants war nur eines für uns zugänglich. Aber wir haben viel miteinander gemacht, das war auch schön, das zu erleben.
Wie geht es jetzt weiter?
Dr. Peiler: Nach den Olympischen Spielen ist bekanntlich vor den Olympischen Spielen. Ende des Jahres laufen alle Trainerverträge aus. Es ist bekannt, dass Hans Melzer in den wohlverdienten Ruhestand geht und dass wir mit Peter Thomsen für die Zukunft planen, auch wenn noch keine Verträge unterschrieben sind. Ich bin auch zuversichtlich, was unsere Cheftrainer Monica Theodorescu (Dressur) und Otto Becker (Springen) betrifft, aber es dreht sich bei der Planung ja nicht nur um die Personalfrage, sondern auch um ein Gesamtkonzept. Schon im kommenden Jahr bei den Weltmeisterschaften geht es um die Quotenplätze für Paris 2024. Gerade im Springen müssen wir sehen, wie wir die Spitze breiter aufstellen und auch jüngeren Paaren mehr Chancen geben. Generell müssen wir uns überlegen, wie wir den Nachwuchs noch besser aufstellen und an das Spitzenniveau heranführen, das gilt im Grunde für alle Disziplinen.“
Der olympische Modus war in diesem Jahr an vielen Stellen anders, besonders gravierend ist das Fehlen des Streichergebnisses. Wie sehen Sie das im Nachhinein?
Dr. Peiler: "Immer noch kritisch. Für uns ist das Mannschaftsergebnis nach wie vor das höchste Gut. Bei einem Format ohne Streichergebnis besteht für jeden die Gefahr, durchhalten zu müssen, damit die Mannschaft nicht „platzt“. Das bedeutet einen hohen Druck für alle Beteiligten. Fakt ist aber auch, dass es spannend war, dass es jeden Tag eine Entscheidung gab und dass das Ziel nach „mehr Flaggen“ erreicht wurde."
In Deutschland wurde der Pferdesport gerade während der Olympischen Spiele in verschiedenen Medien als Tierquälerei angeprangert. Wie haben Sie das in Tokio erlebt?
Dr. Peiler: "Unser Fokus lag eindeutig auf dem sportlichen Geschehen, aber wir wurden natürlich über die Angriffe auf den Pferdesport informiert. Wir sind der Meinung, dass eine solche Pauschalverurteilung durch nichts gerechtfertigt ist. Für uns gilt, dass der Reitsport auf einer Partnerschaft zwischen Pferd und Reiter basiert. Das gilt auch im Leistungssport, der das Ziel hat, das vorhandene Potenzial von Pferd und Reiter zu entfalten. Nichtsdestotrotz gab es Ereignisse, die aufgearbeitet werden müssen, nicht nur von uns. Unser besonderes Mitgefühl gilt dem Schweizer Robin Godel, der ohne sein Pferd nach Hause reisen musste. Sein Beispiel ist für uns ein Grund mehr, in unserem jahrelangen Bestreben, den Sport für Mensch und Pferd immer sicherer zu machen, nicht nachzulassen."
Wie hat sich das Klima ausgewirkt, auch auf die Pferde? Auch darüber wurde im Vorfeld ja gesprochen?
Dr. Peiler: "Wir hatten durch das Testevent 2019 Erfahrungswerte und wussten, was uns erwartet. Die Pferde waren dank eines guten sportmedizinischen Managements bestens vorbereitet. Speziell abends boten sich gute sportliche Bedingungen, während der Mittagszeit blieben die Pferde in den klimatisierten Stallungen. Es gab Möglichkeiten, die Pferde grasen und sich wälzen zu lassen. Die Pferdepfleger brauchten nur 20 Sekunden, um von ihren Unterkünften im Stall zu sein. Den Stall haben wir bewusst danach ausgewählt und dafür in Kauf genommen, einen längeren Weg zu den Trainingsplätzen zu haben."
Zu guter Letzt nochmal zum Thema Corona. Wie war es denn nun damit?
Dr. Peiler: "Corona war überall sehr präsent, das hat schon mit einem Kontroll-Marathon bei der Einreise begonnen. Wir brauchten acht Stunden, um durch den Flughafen zu kommen, später wurde das besser. Die größte Herausforderung war der tägliche Spucktest, der zu einem gewissen Zeitpunkt am Tag von allen vorgelegt werden musste. Unser Mannschaftsarzt Dr. Manfred Giensch musste zeitweilig die Tests von mehr als 50 Personen zusammenhaben, nicht nur von denen aus dem Hotel, auch von den Grooms und Pferdebesitzern. Das Ganze erfolgte über codierte Fläschchen, die man dafür immer in ausreichender Zahl vorrätig haben musste. Und belastend war auch das Tragen der Masken. Wir waren den ganzen Tag angehalten, immer die Maske zu tragen, was bei den Temperaturen störender war als bei den gemäßigten Temperaturen in Deutschland. Unter Covid-Bedingungen haben wir aber alles richtig gemacht, immer unter uns zu bleiben. Unser Ziel war es, unter allen Umständen zu vermeiden, dass sich jemand ansteckt.
Trotz alledem war es ein einmaliges Erlebnis. Besonders schade fanden alle nur, dass das wunderschöne Stadion leer bleiben musste. Die Zuschauer fehlten einfach. Umso dankbarer waren wir für die große Unterstützung, die wir aus Deutschland erfahren haben, zum Beispiel durch all jene, die die Olympischen Reiterspiele per Livestream verfolgt haben.“